Anforderungsspreizung

Reifentechnologie heute und morgen

Anforderungsspreizung

7. März 2025 agvs-upsa.ch – Reifen unterliegen einem Zielkonflikt: Rollwiderstand, Haftreibung und Abrieb stehen in einer unvereinbaren Dreiecksbeziehung. Insbesondere die Anforderungen geringer Rollwiderstand und hoher Grip, also Haftung auf nasser und trockener Fahrbahn, sind diametrale Anforderungen. Die Reifenhersteller schaffen den Spagat als Kompromiss und werden aufgrund der künftigen Euro-7-Emissionsvorgaben zusätzlich gefordert. Andreas Senger


Die Berner Fachhochschule untersuchte Reifen und deren Abrieb zuerst auf dem Rollenprüfstand und danach auf der Strasse mit dem fahrenden Reifenlabor. Foto: BFH


Die ab Ende 2026 geltende Euro-7-Emissionsgesetzgebung setzt nicht nur Schadstoffen von Verbrennungsmotoren niedrigere Grenzen, es werden auch für Brems- und für Reifenabrieb neue Maximalwerte definiert. Diese gelten ab Mitte 2028 für die Typengenehmigung von neuen Reifen. Der durchschnittliche Reifenabrieb eines Fahrzeugs beträgt rund 120 g pro 1000 km (30 g/Reifen). Bei schweren SUV mit Breitreifen können es auch 180 g/1000 km und mehr sein. Je schwerer ein Fahrzeug und je breiter die Reifen, desto grösser ist der Abrieb und damit die Umweltbelastung durch die emittierten Gummiteilchen. Der ADAC hat berechnet, dass in Europa pro Jahr rund 500000 Tonnen Reifenabrieb anfallen. Aktuell ist eine Limitierung der Masse der Partikel vorgesehen. Die Grösse der Gummiteilchen oder die Anzahl der Partikel wie bei der aktuellen Dieselabgasmessung sind vom Gesetzgeber (noch) nicht vorgesehen. Obwohl kleinere Teilchen lungengängig sind und für Menschen und andere Lebewesen die Grösse der Partikel entscheidend ist.

Angesichts der Tatsache, dass schwere Fahrzeuge (BEV) mit mehr als 2,5 Tonnen Leergewicht und Ausnutzung der gebotenen Antriebsleistung überproportional die Umwelt verschmutzen, wurde die Euro-7-Norm unabhängig vom Antrieb konzipiert. Erstmals gelten Schadstoffemissionsgrenzwerte auch für rein elektrisch angetriebene Fahrzeuge. Für die Reifenhersteller bedeutet dies, in der Forschung und Entwicklung neue Wege zu beschreiten. Der Hauptzielkonflikt von Abrieb und Haftung lässt sich nicht ohne Weiteres beherrschen. Soll der Reifenabrieb reduziert werden, ist die einfachste Massnahme, die Laufflächenmischung weniger elastisch und damit härter auszuführen. Eine harte Gummimischung hat deutlich weniger Abrieb und damit eine höhere Lebensdauer zur Folge. Der Nachteil: Der Reifen kann sich mit seinen Gummiteilchen nicht mehr optimal mit der Fahrbahn «verzahnen» und weist weniger Haftwert auf. Die Haftung und damit die Adhäsionskraft zwischen Gummi und Strasse wird umgangssprachlich als Grip bezeichnet.


Beim Längshaftwertdiagramm wird über die Geschwindigkeitsdifferenz von Reifen und Fahrzeug (Schlupf) der Reibwert ermittelt. Foto: BFH


Das mobile Reifenlabor weist zwischen den Achsen die Prüfeinrichtung auf (Hauptbild). Foto: BFH


Physik am Reifen
Eine Reduktion der Haftung und damit physikalisch dem Reibwert kommt nicht in Frage, weil damit die aktive Sicherheit minimiert wird. Eine Reduktion des Reibwertes ergibt einen höheren Schlupf beim Beschleunigen, längere Bremswege und geringere Kurvengeschwindigkeiten bei sportlicher Fahrweise. Dieser Sachverhalt lässt sich mit dem mobilen Reifenlabor der Berner Fachhochschule aufzeigen. Professor Raphael Murri untersucht mit Studierenden jeweils in der Messwoche, wie aktuelle Reifen sich punkto Haftung und Reibwert verhalten. Der Reibwert gibt an, wie viel Radlastkraft (Vertikalkraft) auf den Reifen in Reibkraft (Horizontalkraft) auf die Fahrbahn übertragen werden kann. Der Reibwert kann wie ein Wirkungsgrad angesehen werden. Je höher der Wert, desto mehr Radaufstandskraft kann in Beschleunigungs-, Brems- oder Seitenkraft umgewandelt werden. Je höher der Wert, desto sicherer der Reifen.


Beim Seitenhaftwertdiagramm wird über den Lenkwinkel zur Fahrtrichtung (Schräglaufwinkel) der Reibwert und damit die Seitenkraftübertragung aufgezeichnet. Foto: BFH

In aufwendigen Messreihen werden bei einer Geschwindigkeit von 40 km/h die Daten erhoben. Dabei wird im mobilen Reifenlabor ein Rad auf eine Messnabe montiert, das hydraulisch abgesenkt und mit einer bestimmten Radlast auf die Fahrbahn gedrückt wird. Der Lastwagen fährt nun auf einer benetzten Prüfstrecke (Bewässerung mit Wasser aus Tank) und mittels Bremseingriff lässt sich Schlupf für die Ermittlung des Längshaftwert erzeugen. Der Schlupf ist nötig, damit der Reifen die Kraftübertragung aufbauen kann. Ein frei drehendes Rad kann somit gar keine Kräfte auf die Fahrbahn übertragen. Entsprechend entsteht bei jedem Schlupf ein Abrieb zwischen Reifen und Fahrbahn. Durch eine feinabstufbare Bremse können die Differenzgeschwindigkeit zwischen Reifen und Laborlastwagen erhöht und die Kräfte durch Messeinrichtungen an der Radnabe erfasst werden. Im Beispiel oben ist eine Messreihe von je 20 Messungen für drei verschiedene Reifen der Marke Bridgestone zu sehen. Die Messungen fanden bei Fahrbahntemperaturen von 0 – 5°C statt. Die Messreihe untersuchte die Reifendimension 195/65 R 15 91 H als Sommer- (Turanza T005), Winter- (Blizzard M005) und als Alljahresreifen (Control A005 Evo). Alle Reifen weisen das bestmögliche Nasshaftwertlabel A auf (grundsätzliche, optimale Kundenempfehlung). Die Radlast betrug bei den Messungen 350 kg, und es wurde ein Reifendruck von 2,5 bar befüllt. Der Sommerreifen baut sehr rasch viel Kraftübertragung auf und sorgt im Sommer damit für die kürzesten Bremswege im Alltag. Beim Test kann er aber wegen der harten Gummimischung ein weniger hohes Haftwertmaximum erreichen als der Winterreifen und weist entsprechend den längsten Bremsweg (deshalb sollten Sommerreifen auch ohne Schnee im Winter getauscht werden) auf. Die Winterreifen haben erwartungsgemäss den langsamsten Reibwertaufbau über den Schlupf. Die weiche Gummimischung kann sich trotz der tiefen Temperaturen gut mit der Fahrbahnoberfläche «verkrallen». Der Alljahresreifen ist ein Kompromiss, wobei der getestete Reifen vom Material her gesehen eine «Wintermischung» ist (es gibt auch solche mit «Sommermischung»). Beim Querkraftdiagramm zeigt sich die ähnliche Charakteristik: Durch kontinuierliche Schrägstellung der Messachse mit dem Prüfrades (Erhöhung des Schräglaufwinkels) zum Reifenlaborlastwagen wird der Seitenhaftwert ermittelt und damit die Fähigkeit, Seitenkräfte beim Einlenken zu erzeugen.

Für die Reifenhersteller bedeutet dies, dass künftig an vielen Stellschrauben gedreht werden muss, um einen optimalen Kompromiss zwischen Abrieb und Haftung zu realisieren. Messungen der Berner Fachhochschule und des ADAC zeigen: Einigen Reifenherstellern gelingt der Spagat zwischen Abrieb und Haftung optimaler als anderen. Dies hängt mit der Mischung und damit den chemikalischen Substanzen zusammen, die für die Produktion der Lauffläche eingesetzt werden.


Der ADAC hat im Rahmen seiner periodischen Reifentests den Abrieb verschiedener Reifen erfasst und die Resultate gesammelt. Die Variation beim Reifenabrieb ist gross und damit das Potenzial für Entwicklungen. Foto: ADAC

Gesamtkonzept verbessern
Der Reifenabrieb ist nicht einzig von der Gummimischung, sondern auch vom Karkassen-, Gürtel- und Seitenwandaufbau (Grundkonstruktion) und der Radführung abhängig. Soll der Reifen zu einem geringeren Energieverbrauch des Fahrzeuges beitragen, ist eine steife Ausführung des Reifenaufbaus sinnvoll. Dadurch entsteht am Latsch (Aufstandsfläche) beim Drehen weniger Walkarbeit und damit weniger Rollwiderstand. Wenn der Latsch weniger verformt wird, kann auch weniger Abrieb resultieren. Ein Reifen verliert während seines Einsatzes rund ein Kilogramm an Masse durch den Verschleiss. Der ADAC untersuchte den Reifenabrieb auf zwei Arten: Ein Reifensatz wird über eine Distanz von 15000 km gefahren oder in Konvoifahrten mit mehreren identischen Fahrzeugen und einer Strecke von rund 300 km der Verschleiss geprüft. Vor und nach der Messfahrt werden die Reifen gewogen und damit der Reifenabrieb quantitativ bestimmt.

Ein anderer Lösungsansatz wurde in der Schweiz verfolgt: In diversen Vorstudien und mehreren Projektarbeiten wurde an der Berner Fachhochschule im Studiengang Automobil- und Fahrzeugtechnik das mobile Reifenlabor zur Messung von Reifenpartikeln umgerüstet. In der Bachelorarbeit von Felix Bundschuh und Adrian Mühlheim wurde unter der Betreuung von Professor Danilo Engelmann die Messeinrichtung optimiert und untersucht, welchen Einfluss Radaufstandskraft, Schräglaufwinkel und Reifendruck auf die Grösse der Abriebpartikel festzustellen sind. Die Messungen wurde vom Industriepartner Palas GmbH unterstützt. Damit wurde nicht nur die Masse des Abriebs bestimmt, sondern auch die Grösse des Gummipartikel gemessen.
Mit einer Geschwindigkeit von 40 km/h erfassten die Automobilingenieure die Partikelemissionen auf der Strasse und konnten so die «Tyre and Road Wear Particels» (TRWP), also den Abrieb von Reifen und Fahrbahn, analytisch untersuchen. Das an einer Messnabe montierte Prüfrad kann dank Radlaständerung (Hydraulikzylinder), Antrieb oder Bremsung (Schlupf) und Schrägstellung (Schräglaufwinkel, Verstellung der Messachse) den Reifen gegenüber dem fahrenden Messlabor dynamisch verändert und die Kräfte der Messnabe erfasst werden.

Mittels Absaugvorrichtung mit einem Trichter konnten Partikel in der Grösse von 0,18 bis 30 μm anzahlmässig erfasst und mittels Temperatursensoren die Reifenoberflächentemperatur ermittelt werden. Eine der Herausforderungen war es, die Strömungsgeschwindigkeit und den Volumenstrom der Messentnahme zu optimieren und sicherzustellen, dass die Reifenpartikel zur Messstrecke verfrachtet werden können. Die Ergebnisse: Bei steigender Reifentemperatur nimmt die Partikelkonzentration leicht ab, bei einem vergrösserten Schräglaufwinkel erhöht sich die Partikelzahl und auch die Grösse der Gummiabriebspartikel nimmt zu. Der Reifendruck und die Radlast haben einen untergeordneten Einfluss. Entsprechend ist bei schweren Fahrzeugen nicht die Masse der Grund für die hohen Partikelemissionen und damit des Abriebes, sondern das Beschleunigen, Kurvenfahren mit hohen Antriebsleistungen sowie das sportliche Befahren von Kurven.


Die Anzahl der Reifen- und Fahrbahnpartikel bei 4° Schräglaufwinkel nehmen bei Erhöhung der Reifenoberflächentemperatur ab (Ausreisser durch Fahrbahnverschmutzung). Je schwerer ein Fahrzeug, desto grösser sind die Schräglaufwinkel bei Kurvenfahrt und entsprechend höher der Reifenabrieb. Foto: BFH

Weitere, technische Optimierung
Grundsätzlich kann ein Reifen nur mit Schlupf, also der Differenz zwischen Umfangs- und Fahrgeschwindigkeit in Längsrichtung, Kräfte auf die Fahrbahn übertragen (beim Bremsen wie Beschleunigen). Bei Kurvenfahrt muss ein Schräglaufwinkel aufgebaut werden (Winkeldifferenz zwischen Fahrtrichtung und Bewegungsrichtung eines Reifens), um Seitenkräfte zu erzielen. Soll also ein Fahrzeug bei Geradeausfahrt eine hohe Fahrstabilität aufweisen, müssen geringe Vorspurwinkel an den beiden Fahrzeugachsen konstruktiv vorgesehen werden.

Dies lässt sich vergleichen mit dem Skifahren: ein leichter Stemmbogen (Skis vorne näher zusammen als hinten) sorgt für Stabilität. Eine weitere konstruktive Massnahme ist nebst der Vorspur der Einsatz von negativen Sturzwinkeln an den Rädern. Durch die oben nach innen geneigten Räder (von vorne oder hinten betrachtet) wird bei Kurvenfahrt erreicht, dass die kurvenäusseren Räder durch die Seitenneigung der Karosserie parallel zur Fahrbahn abrollen und damit grösstmögliche Kraftübertragung aufweisen. Beide Lenkgeometriewinkel verursachen aber erhöhten Reifenverschleiss und sind kontraproduktiv in den Bemühungen, den Reifenabrieb zu minimieren.


Mittels Elektromotor kann über die Verzahnung des Lamborghini-Prototyps die Radnabenstellung für variable Sturzwerte erfolgen. Foto: Lamborghini

Um künftig je nach Fahrsituation die Winkel variabel umsetzen zu können, werden vermehrt elektrische Aktuatoren zum Einsatz gelangen, welche die Verstellung des Radsturzes durch eine adaptierbare Radnabe ermöglichen. Lamborghini hat bereits einen Prototyp vorgestellt. Die Hinterachslenkung mit elektrischen Einzelaktuatoren werden ebenfalls zur Reduktion des Reifenabriebes beitragen. Fährt ein Fahrzeug mit gleichbleibender Geschwindigkeit geradeaus, können die Einzelspuren auf 0° gehalten werden. Soll eine Kurve sportlich umfahren werden oder eine grosse Verzögerung resultieren, können die Hinterräder dank unabhängigem Lenkeinschlag sanfte Vorspurwinkel generieren, um die Fahr- und Bremsstabilität positiv zu beeinflussen.
Fazit und Ausblick

Im ADAC-Überblick zeigt sich, dass einige Reifenhersteller den Abrieb bereits jetzt deutlich besser im Griff haben wie die Mitkonkurrenten. Eine Optimierung auf der chemischen und konstruktiven Seite erlaubt deutliche Fortschritte. In der Forschung und Entwicklung sind noch viele offene Fragen unbeantwortet: Wie gross sind die Partikel (nicht einzig die Masse), wie ist die Toxizität und welchen Einfluss hat der Fahrbahnbelag? Nebst diesen Grundsatzfragen ergeben sich aber praxisorientierte Lösungsansätze, um den Reifen- und Fahrbahnabrieb zu minieren. Möglichkeiten sind Filteranlagen und die Behandlung von Strassenabwasser (wird bereits teilweise umgesetzt) oder auch Absauganlagen am Fahrzeug. Die Anpassung von Radgeometriewinkel durch adaptive Systeme für Vorspur und Sturz können im dynamischen Betrieb ebenfalls eine Verbesserung bringen. Allerdings ist die Masse der grossen Fahrzeuge insbesondere mit batterieelektrischem Antrieb abhängig vom Menschen hinter dem Lenkrad: Wird das Raddrehmomentmaximum zum Beschleunigen häufig eingesetzt und bei Kurvenfahrt viel Schräglaufwinkel generiert, entsteht überproportional viel Reifenabrieb. Die Reifenhersteller sind in Forschung und Entwicklung herausgefordert, diesen Spagat mit technischen Lösungen zu meistern.


Die Funktionsweise der Sturzverstellung: Durch Verdrehung des grün eingefärbten Radnabenteils gegenüber dem blauen entsteht mehr Sturz. Foto: Lamborghini
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